Sagas und Skaldendichtung: Wegmarken skandinavischer Literatur im Mittelalter

Sagas und Skaldendichtung: Wegmarken skandinavischer Literatur im Mittelalter
Sagas und Skaldendichtung: Wegmarken skandinavischer Literatur im Mittelalter
 
Island, hart unterhalb des Polarkreises gelegen, Grönland näher als den Britischen Inseln, ist das jüngste Land Europas: Es wurde erst Ende des 9. Jahrhunderts - während der Wikingerzeit - von Norwegern besiedelt. Island war bis dahin unbewohnt gewesen und bot den skandinavischen Siedlern zunächst günstige Lebensbedingungen. Trotz geringer Bevölkerung und wirtschaftlich prekärer Lage hat sich aber gerade in Island nach der Annahme des Christentums in den Jahren 999/1000 eine hochstehende, schöpferische und äußerst produktive Schriftkultur entwickelt, die die Literaturen der übrigen skandinavischen Länder an Umfang und Qualität bei weitem übertraf. Charakteristisch dafür ist die frühe Verwendung der Volkssprache. Bereits Ende des 11. Jahrhunderts wurden die wichtigsten kontinentalen theologischen Werke und Predigtsammlungen ins Isländische übersetzt. Es entstanden Gesetzesaufzeichnungen, erste Darstellungen der Landnahme und der isländischen Geschichte, grammatische Abhandlungen, genealogische Zusammenstellungen und bereits erzählerisch angelegte Lebensbeschreibungen der norwegischen Könige Olaf Tryggvasson, Olaf Haraldsson, auch (Olaf der Heilige) und Sverre Sigurdsson.
 
Ende des 12. Jahrhunderts setzte dann ein breiter Strom kunstvoll erzählter, häufig groß angelegter volkssprachiger Prosawerke ein, die übergreifend als »Sagas« bezeichnet werden. Ihr Kernbestand sind die »Sagas von den Isländern« oder »Isländersagas«, »Íslendinga sögur«. Sie schildern allesamt die Geschicke isländischer Häuptlings- und Bauernfamilien sowie ihrer maßgeblichen Mitglieder. Alle Isländersagas spielen in der Anfangszeit der isländischen Geschichte, von circa 870, der Zeit der Landnahme, bis um 1030, und erzählen von den Ereignissen vor und nach der Landnahme, dem Zusammenleben, den Streitigkeiten, Kämpfen und Fehden in der neu entstehenden isländischen Gesellschaft, von menschlichen Beziehungen und den Handlungen einzelner Protagonisten - und das in einer so realistische Darstellungsweise, dass man bis ins 20. Jahrhundert hinein glaubte, die Sagas seien absolut authentische Berichte aus der vorchristlichen Periode Islands. Die Saga zeichnet sich aus durch einen kunstvoll konzentrierten, »objektiven« Erzählstil, bei dem der Erzähler nahezu vollständig zurücktritt, kaum innere Vorgänge der Figuren schildert, sondern allein die nach außen sichtbaren Handlungen. Damit steht die Saga in der europäischen Literatur des 13. Jahrhunderts einzig da, und sie wird noch heute als Bezeichnung für einen mehrere Generationen umfassenden Familienroman verwendet.
 
Die circa 40, sämtlich anonym überlieferten Isländersagas wurden gut 200 bis 300 Jahre nach den geschilderten Ereignissen geschrieben, und es war lange Zeit in der Forschung umstritten, welchen Einfluss die mündliche Tradition auf die Herausbildung der Sagaliteratur gehabt haben könnte. Heute fasst man die Saga weitgehend als literarische Schöpfungen einzelner Autoren auf, die sich jedoch in unterschiedlichem Ausmaß auf mündliche Traditionen gestützt haben dürften. Dies betrifft sowohl die kurzen, novellenartigen Erzählungen (die »Thættir«, aber auch Werke wie etwa die »Hrafnkels saga«) wie auch die größeren, romanhaften Werke, etwa »Eyrbyggja saga«, »Njáls saga«, »Laxdœla saga«, »Grettis saga«, »Egils saga«, »Gísla saga«. Darüber hinaus rechnet man damit, dass die allgemeinen Vorstellungen sowie die gesellschaftlichen und politischen Konflikte des 13. Jahrhunderts auf die »Sagazeit« projiziert wurden. So wird eine Vielzahl gesellschaftlicher, rechtlicher und politischer Stoffe in den Sagas thematisiert, die gerade im 13. Jahrhundert, der von Machtkämpfen beherrschten »Sturlungenzeit«, relevant waren. Der drohende Verlust der isländischen Selbstständigkeit - 1262 erfolgte die endgültige Unterwerfung des isländischen »Freistaates« unter die norwegische Krone - mag die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit noch gefördert haben. Die Saga wäre damit nicht nur Erzähl- und Unterhaltungskunst, sondern auch ein Medium historischer Reflexion.
 
Die in Island entstandene Prosaliteratur umfasst weiterhin zum Beispiel die Geschichte der Christianisierung in der »Kristni saga« und der isländischen Bischöfe bis ins 13. Jahrhundert (»Byskupa sögur«), die Geschichte vor allem der norwegischen und dänischen Könige und Fürsten vom 9. bis 13. Jahrhundert (»Konunga sögur«) und die »Rittersagas« (»Riddara sögur«), Prosaversionen kontinentaler höfischer Versepen ritterlicher Stoffe.
 
Nahezu ausschließlich im Zusammenhang mit der Sagaprosa überliefert ist die Skaldendichtung, sieht man einmal von der »Skaldenpoetik« des Isländers Snorri Sturluson, der »Prosa-Edda« ab. Als Skalden bezeichnet man die altnordischen Dichter vor allem der Wikingerzeit, die eine nach besonderen Regeln aufgebaute strophische Dichtung, die Skaldendichtung, häufig an Fürstenhöfen, vortrugen. Grundsätzlich thematisiert die Skaldendichtung tatsächliche Begebenheiten und Ereignisse, die häufig datiert werden können. Sie galt schon den mittelalterlichen Sagaschreibern und Historiographen als zuverlässige Geschichtsquelle. Es scheint jedoch sicher zu sein, dass manche Skaldengedichte erst in der Zeit der Niederschrift der Sagas entstanden sind. Metrik und Stil sind - unter anderem - charakterisiert durch ein komplexes System von Silbenzählung, Stabreim, Binnenreim (so besonders im Hofton, dem »Dróttkvætt«) und oft mehrgliedrigen poetischen Umschreibungen (»Kenning«), deren Bildung und Entschlüsselung die genaue Kenntnis der heidnischen Mythologie voraussetzt. Die skaldische Dichtung, von der Einzelstrophe (»Lausavísa«) bis zum prunkvollen Fürstenpreislied (»Drápa«), konnte gut memoriert und zuverlässig überliefert werden, da die festgelegten Metren kaum Veränderungen zuließen. Im Unterschied zu den anonym überlieferten Liedern der »Edda« können die meisten Skaldengedichte namentlich bekannten Dichtern, wie zum Beispiel Bragi Boddason, Thjodolf (9. Jahrhundert), Egill Skallagrímsson (10. Jahrhundert) oder Sigvatr Thórdarson (11. Jahrhundert) zugeordnet werden. Einige Sagas über berühmte Skalden können durchaus als Dichterbiographien gelten, wie zum Beispiel die »Kormaks saga«, die »Hallfredar saga«, die »Gunnlaugs saga«, teilweise auch die »Egils saga«. Die Skaldendichtung entstand in Norwegen, nach der norwegischen Besiedlung Islands sind fast nur noch isländische Skalden bekannt. Nach der Christianisierung lebte die Skaldendichtung ungebrochen fort und bewahrte damit die Kenntnis heidnisch-mythologischer Stoffe und Figuren. Daneben entstand sogar eine rein christliche Skaldendichtung ohne heidnisches Beiwerk, die bis ins 14. Jahrhundert hinein gepflegt wurde.
 
Dr. Harald Erhardt
 
 
Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, herausgegeben von Klaus von See. Band 7: Europäisches Hochmittelalter. Wiesbaden 1978—85.
 Schier, Kurt: Sagaliteratur. Stuttgart 1970.

Universal-Lexikon. 2012.

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